Hierarchie oder nicht Hierarchie – das ist hier die Frage?!

Wieviele Synonyme gibt es eigentlich für Wandel? Transformation, Change, Umbruch – all diese Worte begegnen uns Tag für Tag. Gerade im Gesundheitswesen. Mindestens genauso oft wie die Worte Finanzierung und Fachkräftemangel. Diese zwei Worte sind spontan irgendwie unangenehm, sie lassen uns, tja… seufzen. Denn es gibt wohl niemanden, der ad hoc Konzepte aus dem Hut zaubern kann, wie wir mit den Themen Krankenhausfinanzierung und Fachkräftegewinnung in naher Zukunft in die Spur kommen. Und dann gibt es noch ein Wort, das im Zusammenhang mit Wandel immer wieder auftaucht: das Wort Hierarchie.

Wenn Du das Wort Hierarchie liest, was macht es mit Dir? Lässt es Dich seufzen? Traurig , gar wütend werden? Oder dich sicher und aufgehoben fühlen? Keine Frage, was Hierarchie und „gewachsene Strukturen“ angeht, so scheiden sich die Geister. Es scheint – wie aktuell so oft – zwei Lager zu geben.

Haltung 1: Hierarchie ist (eher) böse.

Immer öfter höre ich: Wir brauchen weniger „starre“ Hierarchien, flachere Hierarchien oder sogar gar keine Hierarchie mehr. Wenn wir die verschiedenen Führungsaufgaben auf verschiedene Schultern verteilen, profitieren alle Beteiligten, so die Annahme. Im Buch „Wir sind Chef“ werden die Vorteile so zusammengefasst:

  • Führungskräfte werden von der Eigenerwartung befreit, in einer komplexen Welt alle Entscheidungen selbst treffen und Probleme allein lösen zu müssen. Führung wird „entmystifiziert“.
  • Mitarbeitende stellen geringere Erwartungen an ihre Führungskraft, übernehmen selbst mehr Verantwortung. Sie werden gefordert, sich den Herausforderungen gewachsen zu zeigen. Dies bietet ungeahnte Chancen, wird aber gleichzeitig zur Verpflichtung.

Auch die fünf New Work-Prinzipien (Freiheit, Sinn, Selbstverantwortung, Entwicklung, soziale Verantwortung) passen sicher nicht flächendeckend zur Realität in deutschen Krankenhäusern – wenngleich es natürlich individuelle Ausnahmen geben mag. Entsprechend wird das ausgeprägte Hierarchiedenken und die damit verbundene „Gemacht wird, was der Chef sagt“-Mentalität häufig bemängelt, wenn es um den Wunsch nach Wandel und einer neuen Arbeitswelt geht.

Jochen A. Werner schreibt im Buch „Generation Hashtag“: „Selbstverständlich gibt es auch unter älteren Kolleginnen und Kollegen zahlreiche moderne, innovative und offene Charaktere. Es gibt aber eben immer noch die sogenannten Halbgötter in Weiß, deren Kommunikations- und Führungsverhalten in keiner anderen Branche außerhalb der Medizin vergleichbar toleriert werden würde.“ Und Martin Camphausen im gleichen Werk: „Geändert hat sich (…), dass Top-Down-Machtspiele im Gesundheitswesen zwar weiterhin zur Tagesordnung gehören, sie aber nicht mehr zeitgemäß sind und die Akzeptanz für solches Verhalten sinkt.“

Eine Umfrage, die bei einem Kongress für Assistenzärzte aus der Kinder- und Jugendmedizin durchgeführt wurde, verdeutlicht die Probleme junger Mediziner mit den gängigen Strukturen und Gepflogenheiten. Bemängelt wird die Kommunikation mit dem Chefarzt, ein Mangel an Mitbestimmung, eine nicht ausreichende Wertschätzung. 67 Prozent der Befragten haben gemäß eigener Angabe in der letzten Zeit überlegt, die Klinik zu wechseln.

Haltung 2: Hierarchie ist (eher) gut.

„Ich bin grundsätzlich für eine hierarchische Organisation in Krankenhäusern. Am Ende muss einer entscheiden“, sagt Dr. Markus Horneber, Vorstandsvorsitzender von Agaplesion. Und mit dieser Einstellung ist er nicht allein. Gerade im klinischen Bereich: Verantwortung muss übernommen, Entscheidungen müssen getroffen werden – und das häufig schnell. So manches Leben hängt davon ab, da kann man nicht ewig diskutieren. Na klar, nachvollziehbar, sagen die einen. Ein Totschlagargument, um etablierte Strukturen zu verteidigen, sagen die anderen.

Dr. Olaf Bornemeier, Vorstandsvorsitzender der Mühlenkreiskliniken, spricht sich in einem kma-Artikel namens „Die Rückkehr des Status“ dafür aus, dass „Abstand genommen werden sollte von Formen der ‚Gleichmacherei‘. Stattdessen sollen Unterschiede anerkannt und vor allem wieder sichtbar gemacht werden.“ Beispielsweise biete die Dienstkleidung „zahlreiche Anknüpfungspunkte zur Sichtbarmachung von Differenzierung“. Seine Argumentation: Es könne „angenommen werden, dass die sichtbare Unterscheidung (…) geeignet ist, emotionale Bedenken und Sorgen bei Veränderungsprozessen einzufangen und aufzulösen.“

Ich gebe gern zu, dass sowohl beim Schreiben der letzten Zeilen (wie auch beim damaligen Lesen des Artikels) zahlreiche Fragezeichen in meinem Kopf entstanden sind. Um es anhand eines Beispiels zu überspitzen: Sinkt die Angst vor den mit der Digitalisierung einhergehenden Veränderungsprozessen dadurch, dass ein gut gekleideter Manager mir mitteilt: „Mach Dir keine Sorgen, wir regeln das schon“? Ich kann an dieser Stelle nur für mich sprechen und die Frage klar verneinen.

Stabile Qualität braucht stabile Strukturen

Und gleichzeitig sind sie eben da, die Strukturen. Die in der Patientenversorgung Tätigen und auch die Patienten verlassen sich auf sie, genauso wie auf klare Weisungsbefugnisse, definierte Abläufe, Leitlinien, Handlungsanweisungen, SOPs, das Qualitätshandbuch und vieles weitere mehr. Patientenversorgung ist aus gutem Grund kein Feld der Freiheit, sondern eines der Dokumentation, der Kontrolle, des Benchmarking. Über allem steht ein Ziel: höchste Qualität. Diesem Ziel muss sich alles unterordnen.

Genau dies zeigt auch eine Studie der Uniklinik Schleswig Holstein auf: „Die im Vergleich zu anderen Branchen hohe Hierarchieorientierung scheint zumindest im Kontext stabiler klinischer Versorgungsqualität und hoher Patientensicherheit in Krankenhäusern durchaus nachvollziehbar.“ Davon ausgehend haben die Wissenschaftler untersucht, inwiefern neue, agile Ansätze und Methoden auch für Krankenhäuser nützlich sein könnten. Zu diesen Ansätzen werden insbesondere gezählt: „die Dezentralisierung von Entscheidungskompetenzen, ein stärkerer Fokus auf kurz- bis mittelfristig ausgerichtete Planung, weitgehende Autonomie für selbstorganisierte Teams, eine Ausrichtung auf bereichsübergreifende und interdisziplinäre Zusammenarbeit sowie flache Hierarchiestrukturen.“ Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sich der Einsatz agiler Prinzipien scheinbar nicht mit klinischen Prozessen vereinbaren lasse.

Also bleibt alles, wie es ist?

Nein. Denn agile Ansätze werden von den Kieler Wissenschaftlern in verschiedenen nicht-klinischen Bereichen als positiv und zukunftsorientiert beurteilt. Potenziale werden insbesondere gesehen in den Bereichen Mitarbeitermotivation und Wertschätzung, Förderung von Partizipation, Kreativität und bereichsübergreifender Austausch.

Gemäß der Studie sollten Krankenhäuser:

  • ihre Strukturen kritisch überprüfen – dahingehend, in welchen Bereichen agile Prinzipien Einzug halten könnten und sollten (situations-/kontextabhängig)
  • höhere Autonomiegrade erproben und neue Rollenverständnisse entwickeln
  • entsprechende Schulungs- und Entwicklungsmaßnahmen planen und umsetzen.

Dazu passt ein Satz, den der oben zitierte Dr. Horneber, der eher für die hierarchische Organisation in Krankenhäusern plädiert, seiner Aussage hinzufügte: „Trotzdem sind kreative Teams möglich.“ Der Mensch möchte entdecken und (mit-)gestalten, ob als Kind oder als Erwachsener – das lehrt uns der Neurobiologe Dr. Gerald Hüther immer wieder. Prof. Dr. Jürgen Weibler, Professor für Betriebswirtschaftslehre, bringt es auf den Punkt, indem er sagt, dass eigenverantwortliche Teamarbeit dazu führe, „in manchen Bereichen freier atmen zu können.“

Gerade in zunehmend digitalen Kliniken, in der sich Arbeits- und Kommunikationsformen verändern, Wissen und Erfahrungen rasend schnell geteilt werden können, neue Lebenswerte einen Aufschwung erfahren und im Zuge des Fachkräftemangels eine „Abstimmung mit den Füßen“ stattfindet, darf dieser Aspekt keinesfalls außer Acht gelassen werden.

„Freier atmen“ – dies gelingt nicht von allein

Prof. Weibler dazu: „Man braucht einen gewissen Rahmen, eine Struktur, in der Agilität ausgelebt werden kann.“ Spannend ist ein Gedanke, den Bettina Jung äußert, nämlich, „dass (verfestigte) Routinen in einer Organisation an sich weder gut noch schlecht sind; sie geben zunächst Stabilität, auch wenn gelebte schlanke Prozesse besser wären. Also – es kann weniger schief gehen als wir denken, wenn wir neue Pfade erschließen.“

Wie aber könnte der Rahmen aussehen? Prof. Weibler spricht beispielsweise von „temporären Kompetenzhierarchien“: „Mal liegen die Kompetenzen bei Person A, mal bei Person B. Im Idealfall verteilen sich diese.“ Kann dies im Krankenhaus funktionieren? Erinnern wir uns: Die Kieler Studie rät zur situations- und kontextbezogenen Prüfung. Klar ist: Ein Patentrezept, eine Blaupause gibt es nicht.

Für mich stellt sich somit die Frage: Erlauben wir uns – parallel zu den gewachsenen und durchaus sinnvollen Strukturen – neue Austausch-, Lern- und Experimentierräume? In einem Umfeld, das personell so eng aufgestellt und bis auf die letzte Minute so durchgetaktet ist wie kaum ein anderes? Sicher keine leichte Aufgabe, aber meiner Meinung nach eine unumgängliche. Eine gemeinsame Herausforderung, die zuallererst eines benötigt: die feste Überzeugung, dass Zuhören und Denken über bisherige Tellerränder hinaus, abteilungs- und hierarchieübergreifendes Lernen und Gestalten wirklich, wirklich notwendig (im Sinne von erfolgsrelevant) ist. Und dass es das aktive Engagement all derjenigen braucht, die sich hierzu – ungeachtet ihres Platzes im Organigramm – gern einladen lassen.

Auf diversen Veranstaltungen wie beispielsweise dem Corporate Culture Camp durfte ich erleben, welche Energie im Raum entsteht, wenn Menschen verschiedener Berufsgruppen und mit verschiedenen Perspektiven zusammenkommen. Was hierbei am wenigsten interessierte, war der Titel auf der Visitenkarte. So nannte beispielsweise eine Teilnehmerin in der Vorstellungsrunde nicht etwa nicht ihren Aufgabenbereich oder ihre Position, sondern sagte so einfach wie genial: „Ich bin Kollegin.“

Sinn vor Ego – diese Haltung lässt sich natürlich nicht verordnen. Wir können aber durch positive Erfahrungen lernen, Schritt für Schritt. Mir fällt kein vernünftiger Grund dafür ein, warum das ausgerechnet im Gesundheitswesen nicht funktionieren sollte, ob in der analogen oder digitalen Zusammenarbeit. In immer mehr Krankenhäusern werden Social Intranets und Mitarbeiter-Apps eingeführt, die allen Kollegen die Möglichkeit geben, sich hierarchiefrei zu vernetzen und sichtbarer zu werden. All dies – sowie neue Formate der persönlichen Begegnung – werden wir Kommunikatoren zukünftig koordinieren und moderieren dürfen. Warum also nicht mal ein Barcamp im Krankenhaus?

Gemeinsam lernen

Fakt ist: Die Unternehmenskultur einer lernenden Organisation unterscheidet sich grundlegend von der eines traditionell-hierarchischen Unternehmens. Das Grundprinzip lautet: Die Team-Intelligenz ist höher als die Summe der Einzelintelligenzen. Die Voraussetzungen hierfür sind:

  • Die Kommunikation ist ein Dialog und keine Diskussion (Senge: „Der Dialog ist die Kunst des gemeinsamen Denkens.“)
  • Es herrscht Kollegialität statt Hierarchiedenken
  • Die Beteiligten sind bereit, ihre Standpunkte in Frage zu stellen
  • Die Offenheit für Unerwartetes bleibt gewahrt
  • Es erscheint mehr als nur eine Lösung möglich.

Eines meiner bisher eindringlichsten Lernerlebnisse in dieser Hinsicht war mein erster WOL Circle im Krankenhaus, bestehend aus drei Kollegen verschiedener Hierarchiestufen aus verschiedenen Abteilungen – die sich nicht in ihrer jeweiligen Rolle, sondern als Menschen begegneten, inspirierten und stärkten. Mein Kollege fasste es nach 12 Wochen so zusammen: „Was immer das war, es war gut! Schade, dass es vorbei ist.“

Ich bin davon überzeugt: Es fängt gerade erst an.


Dieser Artikel erscheint im Rahmen der Blogparade 2020 „Kulturwandel im Gesundheitswesen“.

Infos zum Mitmachen hier.

Bilder: AdobeStock_264030304, AdobeStock_260850539

Meine Mission ist es, Menschen zusammenzubringen, Beziehungen zu verbessern und positive Energie entstehen zu lassen.

Hierzu malte mir die fabelhafte Alexandra Perl diesen Superpower-Avatar, der mich fortan begleitet. Die Schultüte steht für „lebenslang in Ausbildung“. Ein wundervolles Geschenk, für das ich sehr dankbar bin! #whatsyoursuperpower


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