Hört endlich auf mit dem Herumdoktern!

Gleich vorab: Dieser Artikel hat nicht viel mit meinem eigentlichen Kernthema „Gesundheitswesen“ zu tun. Mit einem meiner anderen Lieblingsthemen „Wie gestalten wir ein gelingendes Miteinander?“ dafür umso mehr. Manchmal gibt es einfach Situationen, in denen nichts anderes geht, als sich seine Gedanken von der Seele zu schreiben. Das Unverständnis, das Kopfschütteln zu Papier zu bringen. Und zu fragen: „Geht’s noch?“, „Wo ist denn der gesunde Menschenverstand geblieben?“ „Und noch viel wichtiger: unsere Menschlich- und Herzlichkeit?“

Aber fangen wir von vorne an – und dann doch anhand eines Beispiels aus dem Gesundheitswesen. Nehmen wir an, ein Patient leidet unter zu hohem Blutdruck – ein Prozess, der häufig schleichend und unbemerkt stattfindet, aber durchaus ernste Konsequenzen nach sich ziehen kann. Was tun? Nun, es gibt wirksame Medikamente in verschiedenen Dosierungen, um den Blutdruck „einzustellen“. Ergänzend – und manchmal sogar alternativ – ist ein zweiter Weg ratsam: die Umstellung der Ernährung, das Achten aufs Gewicht und der Einbau von mehr Bewegung in den Alltag.

Warum dieses Beispiel? Nun, es verdeutlicht, dass es meist zwei Wege gibt: den kurzfristigen (die Bekämpfung der Symptome) oder aber den langfristigen (die Bekämpfung des eigentlichen Problems). Dies ging mir durch den Kopf, als ich vor Kurzem die ARD-Reportage „Das verrohte Land – Wenn das Mitgefühl schwindet“ sah. Auf erschreckende Weise wurde dargestellt, dass Aggressionen immer häufiger zum Alltag gehören – auch gegenüber Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes und des Gesundheitswesens. Krankenpfleger absolvieren Deeskalationstrainings, Beamte lernen Stühle als Abwehr vor Angreifern vor sich zu positionieren, Rettungskräfte haben Angst um Leib und Leben, während sie anderen helfen. Was ich im Laufe der Darstellung am meisten vermisst habe, war eine Antwort auf die Frage: Was tun wir – neben all den kurzfristigen Trainings und Abwehrmaßnahmen – denn wirklich gegen dieses Problem? Wie begegnen wir langfristig dieser Entwicklung? Um beim Beispiel des Blutdrucks zu bleiben: Wie „nähren“ wir unsere Gesellschaft? Wo „bewegen“ wir uns hin? Fällt denn niemandem auf, dass wir das Problem an der Wurzel packen müssen, statt die Symptome zu bekämpfen?

Keine Frage, eine sichere Diagnose ist keine leichte Angelegenheit. Wie so oft sind die wahren Probleme nicht offensichtlich – Mediziner müssen genau hinsehen und häufig tief in den Körper vordringen, um klarer zu sehen. Vielleicht sollten wir an dieser Stelle in zwei besondere Bereiche vordringen – nämlich unser Gehirn und unser Herz. Noch nie waren die Ergebnisse der Hirnforschung so faszinierend und relevant wie heute. Ich finde: Es ist unsere gesellschaftliche und menschliche Pflicht, uns diese zunutze zu machen.

Der Hirnforscher Gerald Hüther beschäftigt sich in seinem Buch „Was wir sind und was wir sein könnten“ mit der Frage, wie es gelingt, ein „Wir“ zu schaffen, dass wir selbst aktiv gestalten. Jeder Mensch verfügt über ein hochkomplexes, vielfach vernetztes und zeitlebens lernfähiges Gehirn, welches angewiesen ist auf (Beziehungs-)Erfahrungen mit anderen Menschen. Hüther stellt dar, dass Gehirne sich verändern, indem sie voneinander lernen: „Unsere soziokulturelle Entwicklungsumwelt bestimmt die neuronale Architektur.“ Warum aber ist diese Erkenntnis so wichtig? Nun, es geht darum, dass es unser aller Aufgabe ist, bestehende Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Verhaltensmuster, welche über Generationen weitergegeben werden, zu hinterfragen. Statt „eingefahrener Programme“ benötigen wir ein neues Denken. Nicht kurzfristige Aktionen oder ausgefeilte Methoden führen zu einer besseren Gesellschaft, sondern eine neue Haltung, neue Wege. Hüther zitiert in seinem Buch Albert Schweitzer, der gesagt hat: „Das Heil der Welt liegt nicht in anderen Maßnahmen, sondern einer anderen Gesinnung.“

Besonders im (frühen) Kindesalter wird das Gehirn durch Beziehungserfahrungen mit anderen Menschen geformt und strukturiert. Was für ein enormes Potenzial: Durch die Bewegung in (neuen) Erfahrungsräumen werden innere Einstellungen und die Haltung herausgebildet – im Optimalfall in einem einladenden, ermutigenden, von Vertrauen geprägten Umfeld. Dies führe zur Erlangung eigener Gestaltungkraft, so Hüther. Wo also können Kinder, die voller Entdeckerfreude und Gestaltungslust sind (laut Hüther die zwei Grundbedürfnisse, die zeitlebens in uns verankert sind), diese neuen Erfahrungsräume finden? Wo gibt es eine Plattform für den notwendigen offenen Austausch über eingefahrene Denkmuster hinweg? Wo können Kinder die gesellschaftlich so wichtigen Werte erfahren und erproben?

Es liegt auf der Hand, dass unser Bildungskonzept dahingehend vollkommen unzureichend ist. Der bisherige Fokus liegt leider darauf, unsere Kinder mit für die heutige Zeit teilweise unnützem Wissen vollzustopfen. Der Spaß am Lernen vergeht den meisten bereits in der Grundschule. Unsere Kinder lernen viel zu selten, auf kreative Weise das vorhandene Wissen mit Neuem zu verknüpfen. Und vor allem lernen sie viel zu wenig von dem, was in Zeiten des Umbruchs, der Komplexität, der Verunsicherung wirklich wichtig ist: Was macht uns als Mensch aus? Was verbindet uns? Wie wollen wir miteinander umgehen? Wie erreichen wir eine gesunde und glückliche Gesellschaft (mit Individuen, die keinen Stuhl vor sich halten müssen, um sich vor Angreifern zu schützen)? Unsere Kinder müssen lernen Fragen zu stellen statt Antworten zu geben! Sich selbst reflektieren, Konflikte lösen, Dialoge zulassen und diese aktiv suchen – all dies gehört auf den Stundenplan. Denn wir dürfen nicht davon ausgehen, dass der Erwerb dieser Kompetenzen eine Rolle in jedem Elternhaus spielt oder gar wie von Zauberhand ohne Zutun erfolgt. Wenn es später schief läuft, können wir zwar an das Gewissen appellieren und an Werte und Normen erinnern – dann aber bitteschön sollten wir uns auch die Mühe machen, ein entsprechendes Bewusstsein gezielt und frühzeitig auszubilden.

Konkret: Wir brauchen dringend ein Schulfach, dass sich „Lebenskunde“ oder „Miteinander“ oder „Wir im Dialog“ nennt – und zwar als frühes Pflichtfach über alle Nationalitäten und Religionen hinweg – im interessierten Austausch. Wichtiger als die Namensgebung sind die Inhalte: Grundgesetz und Menschenrechte sind spielerisch bereits im Grundschulalter vermittelbar, ebenso das Bewusstsein für die eigene Würde und die Würde anderer. Was bedeutet Solidarität? Warum ist Hilfsbereitschaft wichtig? Was hat „Sinn“? Was stärkt unser Zusammenleben und den Zusammenhalt? Woran orientiere ich mich als Einzelner – und die gesamte Gesellschaft? Wie gelingt es, ein mutiger, mündiger Bürger zu werden, der in der Lage ist, das eigene Potenzial zu erkennen und zu mobilisieren – anstatt Parolen von Populisten zu folgen? Ich stelle mir einen Unterricht vor, der eigentlich keiner ist – sondern eher eine Gesprächsstunde: mit einer Oma, einem Flüchtling, einer Krankenschwester, einem Kommunalpolitiker (der von rechten Hetzern bedroht wurde), einem Obdachlosen, einem gescheiterten Unternehmer (der neu begonnen hat) und vielen weiteren mehr. All diese Geschichten erwecken Werte zum Leben, machen sie anfassbar, relevant, unumgänglich. Und zwar für alle!

„Bildungsthemen sind Ländersache“, schon klar. Aber: Wir haben auch ein Grundgesetz, das es mit aller Kraft zu schützen gilt – somit hat dieses Thema übergeordnete Relevanz. Es geht nicht weniger als um das, was unsere Gesellschaft im Kern zusammenhält – und hierfür sind neue Wege nötig, auch gegen Widerstände. Oder aber wir bleiben bei der leider so häufigen Alternative: Werfen wir weiter unsere sprichwörtliche Tablette ein und doktern herum – herum um das so tiefliegende Dilemma. Lenken wir uns weiter ab, ecken wir nicht an, verletzen keine Befindlichkeiten von Interessengruppen. Nur weiter so! Doch seien wir uns bewusst: All dies erzielt zwar kurzfristige Wirkung und Erleichterung, hat aber wie fast jedes Medikament leider auch unerwünschte (möglicherweise unerforschte, langfristige) Risiken und Nebenwirkungen – und kann zur bitteren Pille werden.

 

Bildquelle: fotolia 215888951

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