Überlebenstraining am Simulator

Die klassischen Lernformen in der Medizin werden zunehmend durch eLearning-Systeme ergänzt – bis hin zur „High Emotion Simulation“. Werden Lehrbuch und Patientenkontakt bald überflüssig?

„Lasst uns möglichst viele Fehler machen, und möglichst viel aus ihnen lernen. Lasst uns jetzt schon Gutes säen, damit wir später Gutes ernten.“ (Julia Engelmann)

Der virtuelle Patient

„Frau Meier stellt Ihnen in der Ambulanz der Kinderklinik ihre vier Monate alte Tochter Katrin vor, die seit zwei Tagen Fieber hat und heute zunehmend schlapp wirke.“ So beginnt einer der zahlreichen Fälle, die Studenten mittels der sogenannten CAMPUS-Software am „Zentrum für virtuelle Patienten“ der Medizinischen Fakultät Heidelberg bearbeiten. Anhand dieses Programmes erheben die Nachwuchsmediziner die Krankengeschichte des Falles, ordnen weiterführende Untersuchungen an und führen virtuelle Labortests durch, um letztlich über die Therapie zu entscheiden. All dies vor dem Bildschirm. Das Ziel der Simulation ist vor allem, das sogenannte „Clinical Reasoning“ nachzuvollziehen. Damit sind die Denk- und Entscheidungsprozesse gemeint, die die Arbeit erfahrener Ärzte und Pflegekräfte bestimmen.

Dies erinnert ein wenig an die Theoriestunden in der Fahrschule, oder? Tatsächlich: Das Programm erlaubt, sich auch mit außergewöhnlichen Fällen oder schweren Notfällen auseinanderzusetzen, sich also auf den Ernstfall vorzubereiten. Für die Macher selbstverständlich: Der „echte“ Patientenkontakt der Studenten, das sogenannte „bedside teaching“, wird dadurch nicht reduziert. Um beim Beispiel der Fahrschule zu bleiben: Ohne Fahrpraxis gibt es keinen Führerschein.

Es gilt also auch hier: Der Mix macht’s. Denn es ist noch etwas ganz Wesentliches, das ein virtuelles Programm erlaubt, ja sogar provoziert: nämlich guten Gewissens auch Fehler zu machen. Um dann konsequent aus ihnen zu lernen.

Das überdimensionale Tablet

Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist, überhaupt erstmal ins „Tun“ zu kommen. Goethe sagte: „Es ist nicht genug zu wissen, man muss es auch anwenden. Es ist nicht genug zu wollen, man muss es auch tun.“ Ein hervorragendes Beispiel hierfür ist das Projekt SimMed, anzutreffen in der Berliner Charité. Hierbei handelt es sich um ein interaktives Lernprogramm auf einem Touchscreen, der etwa so groß wie ein Tisch ist.

Im Gegensatz zum statischen Unterricht versammeln sich die Jungmediziner und Pflegekräfte um den Tisch und legen selbst Hand an, und zwar an einem fotorealistisch dargestellten Patienten. Sie schauen kleine Filme, die einen Einblick in Ohr oder Rachen ermöglichen, hören mit einem virtuellen Stethoskop die Herztöne ab oder verabreichen dargestellte Arzneimittel. Um all dies leitliniengerecht zu bewältigen, hat die Lerngruppe gerade einmal 15 Minuten Zeit. Da muss jeder Handgriff sitzen.

Der lebensechte Simulator

Hochkomplex und oftmals zeitkritisch – was für die Versorgung von kranken Menschen gilt, gilt für Frühgeborene umso mehr. Es hat sich gezeigt, dass es gerade in Notfällen nicht nur auf das Abrufen medizinischen Wissens ankommt, sondern ganz besonders auf Fähigkeiten wie Teamarbeit und Führungskompetenz. Um dies hocheffektiv zu trainieren, wurde Paul erfunden. Man muss schon zweimal hinsehen, um ihn nicht für ein echtes Frühchen zu halten. Immerhin hat an seiner Schöpfung ein Filmeffekte-Spezialist mitgewirkt. Das Püppchen wiegt 1000 Gramm, ist 35 Zentimeter kurz und verfügt über eine hochrealistische innere und äußere Anatomie.

Wenn die Trainer im Rahmen eines Szenarios beispielsweise die Sauerstoffsättigung sinken lassen, verändert sich die Atmung des kleinen Wesens. Im Extremfall läuft er blau an. Man kann sich leicht vorstellen, wie hochemotional die Mediziner hier in das Training involviert werden. Wie tief sie in das Geschehen und ihre Verantwortung für das junge Leben eintauchen. Keine Frage: Nur mit Geistesgegenwart und präziser Kommunikation lässt sich solch eine Situation erfolgreich steuern.

Wissen, Schnelligkeit, ein konstruktiver Umgang mit Fehlern sowie ein optimales Zusammenspiel und lösungsorientierte Kommunikation – all dies wird im Gesundheitswesen der Zukunft eine immer größere Rolle spielen. Virtuelle Systeme helfen den Studierenden dabei, auf den realen Patientenkontakt optimal vorbereitet zu sein. Vom lediglich beschreibenden Fall auf dem PC, über die fotorealistische Abbildung auf einem Touchscreen, bis hin zum täuschend echt aussehenden und reagierenden Patientensimulator: Die Weiterentwicklung im Bereich des eLearning war in den letzten Jahren gewaltig und setzt sich weiter fort. Hiervon profitieren einerseits die Nachwuchskräfte selbst, andererseits wir Patienten, zu denen die praxisnah ausgebildeten Ärzte und Pflegekräfte dann ans Bett kommen – und zwar ganz real.

Bildquelle: SimCharacters