Plötzlich agil? Wenn Krankenhäuser sprinten

Das ist es also. Das berühmte Tal der Tränen. Mittendrin saß ich, als ich auf den Bildschirm starrte. Und nach einem langen Arbeitstag der Herausforderung gegenüberstand, die Homeschooling-Aufgaben zu finden, die die Lehrer meines 12jährigen irgendwo dort abgelegt hatten. In MS Teams. Für Kinder, die bisher nur kopierte Arbeitsblätter gewohnt waren. Und die plötzlich – von heute auf morgen, im Zuge der coronabedingten Schulschließung – bitteschön vollkommen selbstständig und digital arbeiten sollten.

Was mir durch den Kopf schoss, war neben einem kurzen Anflug von Verzweiflung eine interessante Einsicht. Ich musste plötzlich an unsere Pflegefachkräfte im Krankenhaus denken, die vor ein paar Monaten mitten im ohnehin stressigen Arbeitsalltag mit einer neuen Dokumentationssoftware konfrontiert wurden. „Wann sollen wir denn das noch machen, wir haben doch schon genug zu tun?“, diese Frage einiger Kollegen war in genau diesem Moment für mich so nachvollziehbar wie noch nie.

Veränderungen treffen uns manchmal wie ein Sturm. Das scheinbar Unfassbare an Corona liegt für mich darin, dass das Virus nicht nur einzelne Lebensbereiche infiziert hat, sondern im Gesamtpaket daherkam: Ob Job, Familie und Privatleben, Freizeit oder mein berufsbegleitendes Studium, nichts blieb davon unberührt. Prioritäten verschoben sich, und zwar radikal. Schock, erste Verneinung, Tal der Tränen – diese Phasen des Veränderungsprozesses waren, nun ja… Sprints. Für Widerstand blieb keine Zeit. Ich verlangte mir Akzeptanz und Anpassung im Schnellprogramm ab. 

Das gleiche war natürlich im Krankenhaus notwendig. Hatten wir in der Unternehmenskommunikation bisher eine Vielzahl von Themen, Projekten und Veranstaltungen auf der Agenda, gab es plötzlich nur noch eines. Und auch hier passt das Wort „Sprint“ wohl ziemlich gut. Während ich mich vor ein paar Wochen in einem Blogartikel noch mit der Frage beschäftigte, inwieweit agile Elemente im Krankenhaus ihren Platz finden können, sprinten wir nun auf bisher ungeahnte Weise voran. Das äußert sich zum Beispiel so:

  • Abteilungs- und bereichsübergreifend bilden sich in kürzester Zeit neue Teams.
  • Die Kollegen unserer Standorte arbeiten noch enger und zielgerichteter zusammen.
  • Notwendige Veränderungen (z.B. Besucherstopp, Absage geplanter Operationen und Behandlungen, komplett neue Wegeführungen und Abläufe, Einrichtung neuer Isolierbereiche, Ausbau der Intensivstation) werden in kürzester Zeit und auf unbürokratische Weise umgesetzt – selbst, wenn noch nicht klar ist, wie das alles gegenfinanziert wird.
  • Gemeinsam schauen wir mit großem Engagement auf das Wesentliche und fragen nicht: „Wer ist dafür zuständig?“, sondern: „Wer kann es am schnellsten realisieren?“
  • Home Office und Telefonkonferenzen etablieren sich – Schritt für Schritt.
  • Die Kommunikation ist schneller, direkter, fokussierter.  (Website anpassen am späten Abend? Im Home Office kein Problem.)
  • Social Media, Austausch und Beziehungsmanagement gewinnen an Bedeutung. Der Zuspruch aus der Bevölkerung berührt uns sehr.

Bisher fühlten sich viele Krankenhäuser noch nicht gezwungen, sich mit den Auswirkungen der VUKA-Welt ernsthaft auseinanderzusetzen. Digitalisierung und Flexibilisierung, New Work, agile Strukturen – während einige Häuser sich bereits auf den Weg gemacht haben, sind die meisten noch traditionell aufgestellt. Entsprechend legt eine Krise so Einiges offen: Corona entlarvt. Einen selbst und das Gegenüber, den Umgang der Mitglieder einer Gesellschaft miteinander, und eben auch die Kultur einer Organisation. So zeigt sich unter anderem:

  • Sind wir ein Team – oder in der Lage, eines zu werden? Wie arbeiten wir miteinander, wenn der Druck zunimmt? Besteht Augenhöhe? Sind wir offen gegenüber neuen Arbeitsweisen oder zementieren sich bestehende Strukturen?
  • Welche Haltung steht hinter den Worten? Was macht uns demütig? Was ist uns wirklich wichtig – und was sind wir bereit dafür zu tun?
  • Wie gehen wir mit Emotionen um? (Hierzu möchte ich den lesenswerten Blogbeitrag von Katharina Nolden empfehlen.)
  • Wo bestehen (gefühlte) Ungerechtigkeiten? Sind wir fähig und bereit, diese wahrzunehmen und an uns heran zu lassen?

Die Krise ist noch jung – aber alt genug, um bereits etwas gelernt zu haben. Dies sind meine zwei Key Learnings zum jetzigen Zeitpunkt:

  • In der Positiven Psychologie gibt es die WWW-Frage: „What went well“? Statt negativen und unsicheren Informationen übermäßig Beachtung zu schenken, versuche ich den Fokus auf positive und energetisierende Inhalte zu setzen: Was hat bisher gut geklappt? Was lässt sich daraus für die Zukunft ableiten? Die Beschäftigung mit diesen Fragen hilft mir selbst, mit der Situation umzugehen – aber auch in der internen wie externen Kommunikation: Stellen wir in den Vordergrund, was gemeinsam bereits gewuppt wurde. Ich bin davon überzeugt: Auch und gerade in der Krise sollten wir nicht nur Fakten bringen, sondern auch mutmachende Geschichten erzählen: wertschätzend und authentisch, von Mensch zu Mensch.
  • Sich einbringen ist das, was jetzt nötig ist und gut tut. Doch so gern ich gerade jetzt über Kultur, Führung und Zusammenhalt reden würde – diese Themen sind aktuell nur bedingt anschlussfähig. Zu groß ist die Notwendigkeit, auf operativer Ebene schnell, angemessen und vorausschauend zu agieren. Organisationen, die einen Transformationsprozess bereits auf den Weg gebracht haben (siehe hierzu der spannende Artikel von Tobias Krüger der Otto Group), sind in der Krise auch kulturell gut aufgestellt. Krüger sagt: „Es klingt paradox, aber Unternehmen können es schaffen, aus der Distanz zu mehr Nähe zu kommen.“ Ich wünsche mir, dass wir die Zeit nach Corona u. a. dafür nutzen, gemeinsam zu reflektieren, Entwicklungschancen zu erkennen und neue Formate des Austauschs zu etablieren.

Und bis dahin sprinten wir zusammen weiter. Hierfür wünsche ich uns allen viel Zuversicht, Resilienz, Empathie und vor allem: Gesundheit.

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Dieser Artikel ist Teil der Blogparade „Kulturwandel im Gesundheitswesen“.

Bild: AdobeStock_307894867

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