Die spinnen, die Forscher!

Spinnenseide zählt zu den ganz großen Hoffnungen der Medizin. Wird es dank 3D-Druck schon bald möglich sein, hiermit menschliches Herzgewebe zu ersetzen?

„Aus großer Kraft folgt große Verantwortung.“ (Ben Parker in „Spiderman“)

Eine Krabbelspinne an der Wand? Ein Spinnennetz unter der Zimmerdecke? Iiiieh! Schnell weg damit! Die Spinne bitteschön lebend rausbringen, sonst schimpfen meine Kinder. Und das Netz wird flugs weggewischt. Aber wer hätte gedacht, dass das, was wir häufig achtlos zerstören, ein Wunderwerk ist? Und zwar nicht nur ein optisches, insbesondere wenn sich Tautropfen entlang der seidenen Fäden ablagern und sich die Sonne in ihnen spiegelt. Noch vielmehr ist ein Spinnennetz ein technisches Wunderwerk. Das Material erregt schon seit vielen Jahren die Aufmerksamkeit der Forscher. Und dafür gibt es viele gute Gründe.

Wundermaterial und Wundmaterial

Unglaublich, aber wahr: Spinnenseide ist sechsmal belastbarer ist als hochwertiger Stahl. Kann nicht sein, sagt mein Neunjähriger, dafür gehe das Netz doch viel zu schnell kaputt. Nun ja, das liegt daran, dass ein Seidenfaden zehnmal dünner ist als ein menschliches Haar, kann ich ihm erklären. Aber bezogen auf ihre Masse ist die Seide nicht nur deutlich fester, sondern auch sehr viel elastischer: Bis auf das Dreifache seiner Länge kann ein Spinnfaden gedehnt werden ohne zu reißen. So wird nicht nur der Aufprall heranrasender Insekten abgefedert. Es gibt ja sogar Spinnen, die mit Hilfe ihres Netzes kleine Vögel oder Schlangen fangen.

Aber jetzt wird es erst richtig spannend – insbesondere für die Medizin: Spinnenseide ist etwas, das Bakterien so gar nicht mögen. Sie ist biologisch abbaubar, wasserfest aber wasserspeichernd, formstabil und hitzebeständig. Kein Wunder also, dass solch faszinierende Eigenschaften nicht unentdeckt bleiben. An der Medizinischen Hochschule Hannover beispielsweise werden regelmäßig Spinnen gemolken und das wertvolle Gut erforscht. Die Erkenntnisse: Spinnenseide kann als hervorragendes Wund- und Nahtmaterial dienen. Studien zeigen, dass sie sogar als Nervenimplantat eingesetzt werden kann: Sind Nerven beispielsweise durch einen Unfall geschädigt, kann Spinnenseide eine Brücke schlagen: Entlang der Seide wachsen neue Zellen, der Nerv regeneriert sich. Das funktioniert selbst über längere Strecken.

Ein seidenes Herz aus dem 3D-Drucker

Und als wäre dies nicht schon genug, haben die Forscher nun unser wichtigstes Organ im Blick: das Herz. Die Regeneration von geschädigten Herzmuskelzellen zählt zu den großen medizinischen Visionen. Was bisher  unvorstellbar war, rückt dank intensiver Forschung an den Universitäten Erlangen und Bayreuth in greifbare Nähe.

Voraussetzung hierfür ist, Spinnenseide künstlich herstellen zu können, genauer gesagt: das in ihr enthaltene Protein namens Fibroin. Dieses verleiht der Seide seine Struktur und Festigkeit. Die künstliche Spinnenseide kann, neuesten Erkenntnissen zufolge, gemeinsam mit Körperzellen eine „Bio-Tinte“ für den 3D-Drucker bilden. Dieser erstellt dann daraus das wertvolle Herz-Ersatzgewebe.

Werden unsere OP-Säle also demnächst mit solchen 3D-Druckern ausgestattet sein? Was genau die Zukunft bringt, wissen wir nicht. Da geht es uns ganz ähnlich wie der Spinne, die sich an ihrem Faden in eine ungewisse Zukunft abseilt  – voller Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Und voller Hoffnung, dass sich ihr Mut und Aufwand lohnen mögen. Zum jetzigen Zeitpunkt aber bin ich mir in einem Punkt ganz sicher: Ein Spinnennetz sehe ich ab sofort mit völlig anderen Augen. Auch ohne Tautropfen.

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