Ausmisten bitte!

Neben der Anschaffung von Neuem ist auch der Blick auf das Bestehende lohnenswert: Hat das Nutzen oder kann das weg? Was Winterpullis mit Digitalisierung zu tun haben

„Train yourself to let go of everything you fear to lose.“ (Yoda)

Keine Frage: Wir leben in Zeiten des Wandels. Der Wind weht rauer, manchmal frostig. Ob wir wollen oder nicht, wir sollten uns darauf vorbereiten: Der Winter kommt. Mein vorausschauender Freund also kaufte sich drei neue Pullis. Daraufhin entwickelte sich ein Gespräch, das mir zwei Tage später wieder einfiel, mich spontan zum Nachdenken brachte und ein Beispiel dafür ist, welch philosophisches Potenzial der Alltag doch manchmal in sich trägt.

Er (stolz mit den neuen Pullis in der Hand): „So, ich steck dann gleich mal die alten in die Kleidersammlung.“
Ich: „Oh, echt? Sind die nicht noch einigermaßen gut? So für zuhause… oder…?“
Er (vehement): „Nee! Die kommen jetzt weg!“

Das war schon alles. Die kommen jetzt weg. Zack! Wer nicht weiß, was Disruption ist, kann es hier erleben. Die Freude am Neuen machte es ihm leicht, das Alte aufzugeben. Ich war einigermaßen beeindruckt.

Denn ist es nicht so, dass wir uns oft gegensätzlich verhalten: Wir stopfen das Neue einfach dazu – in einen Kleiderschrank, der heillos überfüllt ist? Sortieren das „historisch Gewachsene“ unreflektiert von links nach rechts, um dem Neuen notgedrungen irgendwo Platz zu machen? Tragen das frisch Angeschaffte aber nur zu besonderen Anlässen und schmiegen uns ansonsten weiterhin in das Gewohnte, Gemütliche – in unsere Komfortzone?

Die Weiterexistenz des alten, wohligen Pullis gibt Sicherheit: So hat man noch einen, falls der neue mal in der Wäsche ist. Aus dem gleichen Grund existiert in vielen Krankenhäusern und Praxen noch die Patientenakte in Papierform parallel zum Patienteninformationssystem. Drucken wir die e-mail aus und heften sie in einen Ordner. Werden Rechnungen zusätzlich auf der lokalen Festplatte abgelegt, anstatt sie bei Bedarf im eigens dafür angeschafften System zu suchen.

Zugegeben: Einen Kleiderschrank zu strukturieren ist in den meisten Fällen eine übersichtlichere Aufgabe als betriebliche Veränderungsprozesse einzuleiten oder ein nutzenstiftendes digitales Umfeld zu schaffen. Und doch treffen wir immer wieder auf die gleichen Gewohnheiten derer, die damit umgehen. Ausmisten ist schwer. Vor allem im eigenen Kopf. Eine der entscheidenden Herausforderungen in Zeiten des Wandels wird sein, zu unterscheiden: Wann lohnt es sich, Bestehendes weiterzuentwickeln, da es langfristig unverzichtbaren Nutzwert hat? Und wann sollten wir den Mut haben, uns von dem, was über lange Zeit funktioniert hat, schrittweise oder schlagartig zu lösen?

Beispielsweise hat wohl niemand vor, die wertvolle Arbeit der Pflegefachkräfte durch den Einsatz von Robotern zu ersetzen – beide können sich aber an der einen oder anderen Stelle sinnvoll ergänzen. Auch wird der Einsatz von Algorithmen in der Diagnostik nicht den geschulten Blick eines erfahrenen Arztes überflüssig machen, sondern vielmehr der Entscheidungsunterstützung dienen. Demgegenüber wird das elektronische Rezept die Papiervariante zweifellos ablösen. Zack. Das kommt jetzt weg!

Zum Abschluss noch ein kleiner wohltuender Ausblick: Neues zieht Neues an. Wer mit dem neuen Pulli zufrieden ist, ergattert vielleicht noch eine passende Hose. Oder entdeckt ein passendes Lieblingsteil wieder. Es wäre nicht das erste Mal, dass man sich darüber wundert, was mit kleinen Veränderungen ins Rollen kommt. Also: Gewähren wir Neuem zuversichtlich den Raum, den es verdient. Dann kann auch der frostige Winter kommen.

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