Agil statt stabil

Wer zukünftig erfolgreich sein will, muss sich weiterentwickeln. Hierfür braucht es nicht nur Mut, sondern auch Freiraum. Beitrag zur Blogparade der Otto Group #Zukunftsblick: Die Welt von morgen

Die Bluse gebügelt, die Haare gekämmt – mit ungefähr 20 anderen Azubis saß ich erwartungsfroh und etwas aufgeregt im Stuhlkreis. Das Abi gerade in der Tasche, war ich bereit für die „große Arbeitswelt“ und meine kaufmännische Ausbildung. Der uns begrüßende Ausbildungsleiter schwang eine pathetische Rede, die den folgenden Satz enthielt: „Wenn Sie alles richtig machen, können Sie hier arbeiten, bis Sie in Rente gehen.“ Das machte Eindruck auf uns Neuankömmlinge, wir waren sicher, eine gute Wahl getroffen zu haben. Waren wir doch ab sofort Teil eines der führenden Versandhandelsunternehmen in Europa – mit Tausenden von Mitarbeitern und einer Markenbekanntheit von nahezu 100 Prozent. Wir waren stolz, den erfolgreichen Weg fortan mitgestalten zu dürfen. Dies war im Jahr 1996.

Das Unternehmen, in dem ich meine berufliche Laufbahn begann, war die Neckermann Versand AG. 16 Jahre später stellte Deutschlands drittgrößter Versender den Insolvenzantrag – rund drei Jahre nach Quelle. Und obwohl es mich inzwischen längst in anderes berufliches Fahrwasser verschlagen hatte, war ich geschockt: Wie konnte ein solches Schwergewicht so dermaßen gegen die Wand fahren? Heute weiß man, es gab zahlreiche Gründe für das Scheitern: Allen voran fatale Managementfehler, strategische Fehlentscheidungen und die Unfähigkeit, in Zeiten exorbitanten Wandels das Ruder des riesigen Dampfers in die richtige Richtung zu lenken.

Seit einigen Jahren arbeite ich nun in einer Branche, die sich ebenso wie der Handel in einem gewaltigen Umbruchprozess befindet: dem Gesundheitswesen. Und fühlte mich ein wenig zurückerinnert, als ich vor nicht allzu langer Zeit auf Twitter folgenden Tweet eines Krankenpflegers las: „Als ich 1995 mein Examen gemacht habe, wurde uns versichert, dies wäre DER Beruf der Zukunft – z.Zt. wären die Zustände zwar schlecht, was aber nicht mehr lange von Politik und Öffentlichkeit ignoriert werden kann. Das ist fast 30 Jahre her, so kann man sich täuschen.“

Sich täuschen, enttäuscht werden, ob Disruption oder lähmender Stillstand, nicht immer zeigen sich die Unternehmens- und Arbeitswelten von ihrer schillernden Seite. Wo dringend notwendige Reformen nicht oder falsch angegangen werden, droht der Zusammenbruch – entweder des gesamten Systems oder einzelner Beteiligter. Wie aber kann der Wandel zum Besseren gelingen? Wie werden wir zukünftig arbeiten? Und können wir uns unseres Umfelds überhaupt noch sicher sein?

Der Philosoph Richard David Precht, der das deutsche Bildungssystem im Hinblick auf seine Zukunftsfähigkeit zu Recht stark kritisiert, sagt: „Heute leben wir in einer Gesellschaft, in der vermutlich 60 bis 70 Prozent der Berufe, die unsere Kinder einmal ergreifen, noch gar nicht erfunden sind.“ Immer mehr Menschen sind in Berufen tätig, in denen sie nicht klassisch ausgebildet wurden – weil das Umfeld sich rasanter weiterentwickelt hat als selbst ein E-Learning-Programm sie jemals hätte darauf vorbereiten können.

Es gilt also offen und flexibel zu sein. Der Begriff Agilität wird nicht selten als Buzzword der Digitalisierung belächelt – es ist aber unumstritten, dass Agilität eine zentrale Kompetenz darstellt, um – in welchem Bereich auch immer – nicht nur erfolgreich, sondern überhaupt überlebensfähig zu sein. „Die eigentliche Herausforderung ist nicht die digitale Transformation, sondern der Wandel von fragilen zu agilen Unternehmen, da Veränderung eine Konstante ist“, sagt beispielsweise der Stratege Christian P. Stobbe: Im Business-Alltag brauchen wir „Empathie, Toleranz und Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Herausforderungen und Arbeitsweisen.“

Ist dies nicht genau das, was die Digitalisierung so spannend macht? Sicher, wir können Prozesse optimieren, selbstlernende Maschinen erfinden, unfassbar viel Nutzenstiftendes (gerade im Gesundheitswesen) schaffen – aber mindestens genauso wie die scheinbare Unendlichkeit der technischen Optionen faszinieren doch die Möglichkeiten, die wir als Menschen haben, uns weiterzuentwickeln. Und dies gilt sowohl für jeden persönlich als auch gemeinsam, ob im kleinen Team oder im weltumspannenden Konzern.

Werfen wir nochmals einen Blick auf den Versandhandel, der zweifelsohne sein rasantes Wachstum auch in den nächsten Jahren fortsetzen wird. Hießen die großen Player früher Otto, Quelle und Neckermann, sind es heute Amazon, Otto und Zalando. Dass Otto nach wie vor einen festen Platz in der obersten Liga einnimmt, kommt nicht von ungefähr. Die frühzeitige digitale Transformation und fokussierte Ausrichtung auf den Kundennutzen zählen als Erfolgsfaktoren. Hinzu kommt der konsequente Wandel der Unternehmenskultur, der sich beispielsweise in Initiativen zur neuen Führung und Zusammenarbeit, dem Aufbau von Social Spaces und eigener Startups zeigt.

Keine Frage: Neue Ideen brauchen Freiraum – heute mehr denn je. Und genau dieser Freiraum ist es, den beispielsweise Krankenpfleger oftmals nicht erleben. Im hektischen Klinikalltag fehlt es keinesfalls an Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem, sondern eher an der Möglichkeit, Ideen zu leben, umzusetzen und weiterzuentwickeln. Agilität braucht Rahmenbedingungen. Eine innovativ und vernetzt denkende und handelnde Führung. Mitarbeiter, die mitziehen und im Optimalfall auch mitgestalten. Und vor allem: eine wirkungsvolle Finanzierung.

Abschließend lässt sich festhalten: Otto wurde mit den gleichen Herausforderungen wie Neckermann und Quelle konfrontiert, nahm sich ihnen aber vollkommen anders an. Der Marktanteil zeigt: Die Transformation kann gelingen. Ob es im Hamburger Unternehmen Azubis gibt, die dort bis zur Rente bleiben, vermag ich nicht vorauszusehen, doch die Chancen stehen sicher gut. Ich wünsche mir, dass wir diese Chancen auch in anderen Branchen ergreifen und „gesunde“ Entwicklungen aktiv vorantreiben.

Bildquelle: fotolia111855481